Die meisten Ausleger legen schon beim ersten Vers des 12. Kapitels eine erstaunliche Oberflächlichkeit an den Tag, denn in fast allen Bibelübersetzungen wird hier das Wort “Gaben” hinzugefügt:
Was aber die geistlichen [Gaben] betrifft, Brüder,… (12:1)
Das ist zwar im Grunde nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig, denn das Wort „Gaben“ haben an dieser Stelle die Bibelübersetzer selber hinzugefügt. Wer eine sehr genaue Übersetzung nimmt, der wird merken, dass hier das Wort Gaben nicht steht.
Zumindest in der Scofield-Bibel (Elberfelder-Übersetzung) steht unten in den Anmerkungen, dass das Wort Gaben hier eigentlich nicht steht. Denn was hier mit “geistlichen” übersetzt wird ist das Wort “pneumatikos” und nicht das Wort “charismata”. Ersteres bedeutet “geistlichen”, letzteres bedeutet “Gnadengaben”. Natürlich geht es in Kapitel 12 um die Gnadengaben, deswegen waren sich auch 90% der Übersetzer und Exegeten der Meinung, dass Paulus sich hier mit dem Wort “pneumatikos” auf die Gaben bezieht. Es liegt scheinbar nahe, ja, es scheint sonnenklar, dass mit pneumatikos eigentlich die Geistesgaben gemeint sein müssen, nur wenn Paulus sie wirklich gemeint hat, warum benutzt er dann nicht die richtige Bezeichnung?
Genau diese oberflächliche Herangehensweise an das Wort Gottes hat nicht zuletzt zu der heutigen babylonischen Verwirrung in Bezug auf Geistesgaben geführt. Das Fatale ist nicht, dass man sich nicht im griechischen auskennt, das tun die meisten Übersetzer – das Fatale hier ist, dass die Auslegung und Übersetzung mit der menschlichen Meinung angeglichen und abgestimmt wird. Es liegt nicht an der fachlichen Ausbildung, es liegt an der geistlichen Schulung: Das Wort Gottes wird in die Schubladen des menschlichen Denkens einsortiert, und deswegen wissen wir auch, was da eigentlich stehen müsste, bzw. was Paulus ja eigentlich unser Meinung nach gemeint haben müsse. Das dadurch dann Ungereimtheiten entstehen, kümmert uns nicht weiter, darüber zerbrechen wir uns nicht mehr den Kopf.
Wenn Paulus Geistesgaben meint, dann benutzt er das Wort charismata und wenn er ein anderes Wort benutzt, dann meint er wahrscheinlich auch etwas anderes, denn mir ist keine Stelle in der Bibel bekannt, wo Paulus die Geistesgaben mit einem anderen Wort als charismata beschreibt.
Man kann diesen Vers stattdessen wie folgt übersetzen:
Was aber die Geistlichen betrifft, Brüder, so will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid. (12:1)
Wenn man es so liest, dann bezieht sich pneumatikos auf die Brüder, das würde Sinn machen, da Paulus in den vorigen Kapitel die fleischlichen Brüder adressiert. Oder es besteht die andere Möglichkeit, dass man das Wort pneumatikos an dieser Stelle ganz allgemein auf „geistliche Angelegenheiten“ bezieht. Letztere Möglichkeit beinhaltet natürlich auch das Thema Gaben, aber es geht noch weit darüber hinaus. Wenn wir uns den Aufbau des Korintherbriefes genauer anschauen und uns einen Überblick verschaffen, dann werden wir schnell merken, dass Paulus in der ersten Hälfte (bis einschließlich Kapitel 11) die fleischlichen Christen in Korinth anspricht und hauptsächlich über fleischliche Dinge spricht. Schon ganz am Anfang des Briefes benutzt Paulus dieses Wort pneumatikos:
Der Geistliche aber beurteilt alles, er selbst aber wird von niemand beurteilt; (1. Kor. 2:15)
Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo. (1. Kor. 3:1)
Hier benutzt Paulus das Wort pneumatikos um eine bestimmte Sorte Christen zu beschreiben, nämlich geistliche Christen, die im Gegensatz zu fleischlichen Christen stehen. Und im ersten Vers des dritten Kapitels macht Paulus unmissverständlich klar, welche Sorte Christen er jetzt adressiert, nämlich an die fleischlichen Christen:
Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht; aber ihr vermöget es auch jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich. (1. Kor. 3:2)
Und in den folgenden Kapiteln bis Kapitel 11 einschließlich bezieht sich Paulus hauptsächlich auf die fleischlichen Christen in Korinth. Er spricht die fleischlichen Sünden an (Ehebruch, Streit, siehe Kapitel 5), er muss die Korinther darauf hinweisen, dass sie nicht vor weltliche Gerichte ziehen (Kapitel 6), er muss ihnen klarmachen, dass sie ihren Leib heiligen (Kapitel 6), er klärt sie über die Heiligkeit des Ehebundes auf (Kapitel 7) und setzt ihnen Ordnungen über heiraten und verheiratet werden vor (Kapitel 7). Danach klärt er sie über das Götzenopfer und ihre neugewonnene Freiheit in Bezug auf unreine Speisen auf (Kapitel 8), im neunten Kapitel geht es ebenfalls um elementare Dinge wie Arbeit und Lohn, und dann bis Kapitel 11 um den Ablauf das Abendmahls. Dies sind alles elementare Dinge und eher äußerliche Angelegenheiten (über geistliche Angelegenheiten spricht Paulus zum, Beispiel im Kolosser und Philipperbrief an, wenn man das vergleicht, dann sieht man den Unterschied).
Es ist ein klares Kennzeichen von Fleischlichkeit, wenn es um Äußerlichkeiten geht. Daher beginnt Paulus mit Christus und dem Wort vom Kreuz, denn das ist die Grundlage, um den Sieg über das Fleisch zu erlangen. Er erklärt ihnen nochmal bis Kapitel 4 den Unterschied zwischen geistlichen und fleischlichen Christen, und legt die einzige Grundlage vor, die die Korinther von ihrer Fleischlichkeit befreien kann: Jesus Christus und sein Tod am Kreuz. Wir erfahren aus diesen Kapiteln, dass es ja nicht das erste Mal ist, dass Paulus ihnen diese Grundlagen einschärft (Kapitel 2,1-5) und dass einige unter den Korinthern diese Grundlagen (Christus und die Befreiung durch das Kreuz) immer noch nicht verstanden haben (Kapitel 3,1-3). Daher erwähnt Paulus diese Dinge auch nur relativ kurz, geht dann auf die konkreten äußerlichen Angelegenheiten ein, und schließt diese Zurechtweisung der fleischlichen Christen dann in Kapitel 11 ab.
Nachdem Paulus in den ersten Kapiteln zu den fleischlichen Christen über fleischliche Angelegenheiten gesprochen hat, richtet er sich ab dem 12. Kapitel an die andere Gruppe von Christen in Korinth, nämlich an die geistlichen und möchte sie über geistliche Themen unterrichten. Und jetzt wo wir diesen Zusammenhang gesehen haben, macht es auch Sinn, dass Paulus in 12:1 genauso wie in 3:1 das Wort pneumatikos benutzt, vorher hat er sich an die sarkikos, die Fleischlichen gerichtet, jetzt ist Schluß mit Äußerlichkeiten und Paulus beginnt über die geistlichen Dinge zu reden. Paulus möchte nicht, dass die geistlichen Brüder über geistliche Dinge in Unkenntnis sind. Daher würde es ebenso Sinn machen, das Wort pneumatikos an dieser Stelle auf den Inhalt zu beziehen, also generell auf geistliche Themen. Einige Übersetzungen machen dies zum Glück auch, sie fügen dann das Wort „Dinge“ hinzu.
Was für einen Sinn macht es, fleischliche Christen über geistliche Dinge zu lehren? Sie werden dadurch nur noch fleischlicher und hochmütiger und je mehr Gaben sie an sich entdecken, umso hochmütiger werden sie. Zudem stehen sie in der allergrößten Gefahr, über die Gaben den Geber aus den Augen zu verlieren, das heißt, sie verlassen das Fundament, Jesus Christus und sein Tod am Kreuz. Das macht keinen Sinn, daher richtet Paulus dieses Kapitel nicht an die Fleischlichen, sondern an die Geistlichen, das sind nicht die Menschen, die nicht sündigen, sondern dass sind die Menschen, die auf dem Fundament stehen, das Jesus Christus auf Golgatha gelegt hat: Nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!
So betont auch Andrew Murray, dass das Streben nach der Kraft des Geistes nichts nützt, es sei denn man hat zuvor die Erfahrung von Römer 6 gemacht, dass man erkannt hat, dass man mit Christus gestorben ist und durch das Mitgekreuzigtsein die Befreiung von der Macht der Sünde erlebt hat. (siehe dazu Andrew Murray – “Der Geist Jesu Christi”)